Rundumblick

 

„Rundumblick“ ist eine Skulptur über Sichtbarkeit, Verantwortung und die Frage, wie Gesellschaft und Systeme mit Identität umgehen. Das gesamte Werk besteht vollständig aus recyceltem Material – Altpapier und Leim –, wodurch es nicht nur eine symbolische Geschichte erzählt, sondern auch physisch verkörpert, was Transformation bedeutet: Aus Weggeworfenem entsteht etwas Neues, Bedeutungsvolles, Tragendes. Die Vase auf der linken Seite trägt rundherum Augen. Diese Augen stehen nicht für Kontrolle, sondern für Achtsamkeit. Sie zeigen, wie ein System eigentlich sein sollte: aufmerksam, präsent und ohne blinde Flecken. Ein ideales System müsste nicht erst die Perspektive wechseln oder sich bewegen, um zu erkennen, wenn jemand aus dem Blick fällt – es müsste von sich aus in alle Richtungen sehen können. Es müsste wahrnehmen, ohne dass jemand schreit. Es müsste verstehen, bevor jemand zerbricht. Die Vase symbolisiert damit ein System, das niemanden verliert und niemanden übersieht, weil es so gestaltet ist, dass es alles im Blick hat. Auf der rechten Seite befindet sich die Kugel, deren Oberfläche ein Labyrinth trägt. Dieses Labyrinth steht für die Identität eines Menschen: verwinkelt, individuell, voller Wege und Abzweigungen. Identität ist niemals einfach. Sie ist nicht linear, nicht klar zu lesen, nicht schnell zu begreifen. Sie ist ein innerer Raum, der aus Erfahrungen, Verletzungen, Hoffnung, Entwicklung und Selbstfindung besteht. Die Kugel erinnert daran, dass jeder Mensch sein eigenes, komplexes Labyrinth in sich trägt – und dass kein System, keine Behörde, keine gesellschaftliche Struktur das Recht hat, diese Identität zu vereinfachen oder zu ignorieren.

 

Die beiden farbig gestalteten Säulen, die Vase und Kugel tragen, entspringen derselben Basis. Ihre unteren Segmente sind in den sieben Farben der Chakren gestaltet – von Rot bis Violett. Diese bewusste Gestaltung zeigt, dass sowohl der Mensch als auch das System auf denselben energetischen Grundprinzipien ruhen: Stabilität, Kreativität, Macht, Herz, Ausdruck, Intuition und Bewusstsein. Die Chakren repräsentieren die fundamentalen Ebenen des Menschseins, auf denen Identität entsteht und auf denen Systeme wirken sollten. Die Säulen selbst symbolisieren zwei Lebensrealitäten: die des Individuums und die des Systems. Beide haben denselben Ursprung, wachsen aber in unterschiedliche Richtungen. Der Mensch entwickelt seine Identität, sucht seinen Weg, kämpft mit seinem inneren Labyrinth. Das System hingegen hat die Aufgabe, zu tragen, zu schützen und präsent zu bleiben – und zu sehen. Die zentrale Aussage des Kunstwerks lautet: Ein System darf niemanden aus dem Blick verlieren. Es darf nicht zulassen, dass Identität unsichtbar wird, nur weil sie komplex ist oder nicht der Norm entspricht. Ein gutes System erkennt selbst dann, wenn eine Identität fällt, stolpert oder hinter etwas verschwindet, dass sie dennoch existiert. Es sieht hin, egal wie leise jemand geworden ist. Es nimmt wahr, auch wenn jemand nicht in traditionellen Mustern lebt, liebt oder spricht. Und es reagiert, ohne dass man darum bitten muss. In einer Zeit, in der viele Menschen von Institutionen übersehen werden – sei es wegen ihrer Identität, ihrer psychischen Situation, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihrer Lebensumstände –, stellt „Rundumblick“ die Frage, ob unsere Strukturen wirklich so aufmerksam sind, wie sie sein müssten. Das Kunstwerk erinnert daran, dass Identität immer voraussetzt, gesehen zu werden. Und dass es die Verantwortung aller Systeme ist, diese Sichtbarkeit nicht nur zu ermöglichen, sondern aktiv zu gewährleisten. Es fordert dazu auf, genauer hinzusehen, die Perspektive zu erweitern und die Vielfalt menschlicher Identität nicht nur zu akzeptieren, sondern zu schützen. „Rundumblick“ ist ein Appell an eine Gesellschaft, die verstehen muss, dass ein Mensch nicht verloren geht, weil er fällt – sondern nur dann, wenn niemand hinschaut.