17560 unhörbar gemachte Schreie

„Was tötet zuerst – der Schlag, das Wort oder das Schweigen?“
Eine plastische Reflexion über systemische Auslöschung
Ich möchte Ihnen heute mein Kunstwerk vorstellen – eine Skulptur, ein Aufschrei, eine Reflexion über non-binäre Identitäten und die zerstörerische Kraft, die jede Handlung, jedes Wort, jedes Schweigen auf sie ausüben kann.
Vielleicht haben einige von euch bereits innerlich abgeschaltet, als ich das Wort „non-binär“ erwähnte. Andere fühlen sich vielleicht genervt, schieben es beiseite als „nicht mein Thema“. Und wieder andere denken sich: „Es gibt doch wahrlich dringendere Probleme – Kriege, Inflation, die nächste Stromrechnung.“ Jeder trägt seine eigenen Lasten, lebt in seinen Sorgen und seiner Welt.




Doch stellt euch vor, zu all diesen Herausforderungen käme noch ein ständiger Blick, ein endloses Hinterfragen, ein gesellschaftliches Ausradieren hinzu. Nicht sichtbar, aber spürbar – in jedem Raum, jedem Gespräch, jedem Spiegelbild. Lasst mich es in ein Bild fassen: Stellt euch vor, ihr müsst eine schwierige Mathematikaufgabe im Kopf lösen. Nicht 5 + 5, sondern eine komplexe Gleichung. Währenddessen stehen zwei oder drei Menschen um euch herum, rufen laut durcheinander, werfen Zahlen in den Raum, verwirren euch absichtlich. Ihr verliert den Faden. Ihr bittet um Ruhe, doch sie hören nicht auf. Für mich – als nicht-binäre Person – ist das mein Alltag. Mein Leben gleicht dem Versuch, eine solche Aufgabe zu lösen, während die Welt um mich herum Lärm macht, mich stört, mich infrage stellt. Wie lange würdet ihr das aushalten? Nicht nur ich – auch alle anderen, die nicht männlich oder weiblich sind, nicht in das Raster passen, nicht die erwartete Form erfüllen – erleben, was es heißt, täglich gegen ein unsichtbares System anzukämpfen, das uns nicht sehen will. Dieses Kunstwerk spricht nicht nur über mein Leben, sondern über das Leben so vieler anderer, deren Existenz fortwährend geleugnet, ausgelöscht, ignoriert oder lächerlich gemacht wird.
In einer Gesellschaft, die das Wort „Akzeptanz“ oft nur als leere Geste versteht, befinden wir uns in einem Prozess, der weit über Ablehnung hinausgeht. Es ist ein Zustand der systematischen Auslöschung – subtil und gleichzeitig brutal. Es ist ein permanenter Angriff auf unser Innerstes, ein Zerreißen unserer Selbstdefinition, ein ständiges Sich-selbst-Zusammensetzen aus Scherben.
Wir tragen einen Druck in uns, der nicht nur unser äußeres Leben beeinflusst, sondern tief in unser Innerstes dringt. Es ist ein Gefühl der Entwurzelung, ein Ringen um Existenz, das sich nicht in Worte fassen lässt – und doch ringen wir mit Worten, um es begreifbar zu machen. Menschen wie wir, die jenseits binärer Normen leben, tragen eine Last, die nicht nur schwer, sondern existenziell zermalmend ist. Diese Last ist nicht nur das Ergebnis verletzender Worte oder abwertender Blicke, sondern eine stille Tragödie, die sich im Schatten der Ignoranz abspielt.
Viele werden bis an den Rand ihrer Erschöpfung getrieben – und darüber hinaus. Die Spirale aus Einsamkeit, Missverstehen, Verleugnung führt nicht selten in die Verzweiflung. Einige wählen den letzten Ausweg. Und sie hinterlassen etwas – keine Leere, sondern ein Echo. Einen Schrei, der nie gehört wurde.
Mein Kunstwerk ist der Versuch, diesem stummen Schrei eine Form, eine Stimme, ein Gesicht zu geben. Es ist ein Aufbäumen gegen die Unachtsamkeit, die schweigende Gewalt, das Wegsehen, das tötet. Dieses Werk ist weit mehr als ein Objekt. Es ist das freigelegte Innere meines Wesens. Nackt, roh, zerbrechlich – und doch ungebrochen. Eine plastische Narbe, eine Spur meiner Kämpfe, meiner Wut, meiner Trauer. Eine Einladung, hinzusehen. Die Skulptur, die vor euch steht, ist keine Provokation um der Provokation willen. Sie ist ein Manifest meiner Existenz. Eine fast exakte Replik meines Körpers – und doch ist sie mehr als ich. Denn sie trägt mein Gesicht an der Stelle, an der andere das Genital erwarten würden.
„Mein Gesicht sitzt dort, wo die Gesellschaft Geschlecht festmacht.“




„Diese Wesen sind kein Chaos, sondern Metamorphose.“
Die abgeschnittenen Ohren, die die Skulptur in ihren Händen hält, sind Zeichen. Sie sind mein Nein. Mein Schutz. Meine Selbstbehauptung. Ich will nicht mehr hören, was mich zerstört. Ich entziehe mich der Gewalt der Sprache, der Zuschreibungen, der Diskurse, die mich klein machen wollen.
Mein Werk ist Manifest und Wunde zugleich. Es ist mein Schrei nach Freiheit, mein Ruf nach Würde. Es ist die künstlerische Verwandlung von Schmerz in etwas Sichtbares, etwas Lebendiges, etwas, das nicht ignoriert werden kann. Doch mein Werk spricht nicht nur über uns – es spricht über eine Realität, die längst nicht mehr leise ist, sondern laut und beängstigend.
„Wer glaubt, dass es nur um Pronomen geht, verkennt die Dynamik von Ausgrenzung.“
Während ich hier stehe, verschwinden weltweit Rechte. In Uganda werden queere Menschen kriminalisiert, mit lebenslanger Haft bedroht – allein wegen ihrer Existenz. In Russland wurde kürzlich der gesamte Begriff „LGBTQ“ als extremistisch eingestuft. In den USA verbieten immer mehr Bundesstaaten medizinische Versorgung für trans* Kinder und Jugendliche. Auch in Europa – in Polen, Ungarn, Italien – bröckeln Schutzräume, verschärfen sich Diskurse, wachsen Übergriffe.
Diese Entwicklungen sind keine Randerscheinungen. Sie sind Teil einer globalen Welle der Regression. Einer Rückwärtsbewegung, die queere Menschen zum ersten Testobjekt erklärt – um später alle Freiheiten zurückzudrehen.
Denn was heute uns trifft, trifft morgen euch.
Wer glaubt, dass es nur um Pronomen geht, verkennt die Dynamik von Ausgrenzung.
Es beginnt mit dem Verbot von queerer Literatur – und endet bei der Kontrolle von Körpern.
Es beginnt mit dem Entzug medizinischer Selbstbestimmung – und endet bei der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Es beginnt mit dem Lächerlichmachen von nicht-binären Identitäten – und endet in einer Welt, in der Menschenrechte wieder verhandelbar sind.
Es ist nur eine Frage der Zeit.
Und nun richte ich diese letzte Frage an euch:
Welche Handlung wird durch euren Blick auf dieses Werk ausgelöst?
Welche Veränderung geschieht in eurem Innehalten?
Diese Skulptur stellt euch vor eine Entscheidung:
Wie weit seid ihr bereit zu gehen, um Menschen wie uns – nicht-binäre, nicht-konforme, nicht-zuordenbare Körper – zu akzeptieren oder zu vernichten?
Bewusst oder unbewusst, durch Worte, durch Schweigen, durch Haltung.
Verändert euch dieser Blick?
Oder bleibt ihr blind für die unzähligen Wunden,
die eine Gesellschaft schlägt,
die nicht hören will –
und nicht sehen?